Pygmäen (Teil 2)
Eine historisch-kryptoanthropologische Betrachtung (Fortsetzung)
Zur Diskussion der Pygmäen im Mittelalter
(bb) Im europäischen Mittelalter war die Frage nach der Existenz von Pygmäen wie jeder andere Gegenstand abendländischer Gelehrsamkeit nicht zuletzt eine Angelegenheit des rechten Glaubens, und den antiken Überlieferungen zur realen Existenz der Pygmäen glaubte man vor allem aus zwei Gründen. Einen davon nennt uns die deutschsprachige Wikipedia: "In der damals maßgeblichen lateinischen Bibelübersetzung, der Vulgata, kommt die Bezeichnung >Pygmäen< vor." [1] Damit schien die Existenz der rätselhaften Zwergmenschen - ebenso wie die der Riesen - höchstinstanzlich durch 'Gottes Wort' bestätigt. Zudem hatte ja auch Aristoteles, dessen Werke spätestens im 13. Jahrhundert zu einer wesentlichen Grundlage scholastischer Wissenschaft wurden, davon berichtet, die Pygmäen lebten im sumpfigen Gebiet der Nilquellen. Das konnte zwar zu dieser Zeit niemand überprüfen, aber wer hätte schon seine augenscheinlich im Einklang mit der Bibel stehende, autoritative Meinung in Frage stellen wollen?
Was allerdings an den mittelalterlichen Universitäten 'heiß' diskutiert wurde, war die Frage, welche Stellung den Pygmäen und anderen absonderlichen Kreaturen aus den antiken Schriften im Rahmen von Gottes Schöpfung zukam. Cočo C. Bojadžiev und Tzotcho Boiadjiev führen dazu aus: "In das christliche Universum, gedacht als strenge Hierachie von klar differenzierten und in sich vollendeten Naturen, müssen sie als durch einen eigenen ontologischen Ort klar genug identifiziert einziehen. Denn wenn [sich] diese Wesen in gewissem Sinne der Norm des Menschlichen entziehen, worin kann ihre existentielle Berechtigung liegen? Ein so prinzipienfester und intellektuell kompromissloser Autor wie Augustinus kann sich diese Frage nicht ersparen. im >Gottsstaat< fragt er sich, inwieweit alle jene Geschöpfe von Adam abstammen, die sich mit der sozusagen reinen Idee vom Menschen nicht messen lassen - die Zyklopen, die Androgynen, die Kinokephalen und die anderen, von denen die Legende berichtet.
Diese Frage gilt auch mit vollem Recht für jene, die nicht größer als eine Elle sind, die ihre Kinder im Alter von fünf Jahren zur Welt bringen, die nicht länger als acht Jahre leben, und die die Griechen >Pygmäen< nennen. Möglich erscheinen folgende zwei Antworten: Das sind entweder keine Menschen oder, wenn sie Menschen sind, so sind das Adams Kinder. Doch für Augustinus scheint das Dilemma nur schwer lösbar. Jedenfalls begnügt er sich damit, es in den Kontext seiner Auffassung von den hinsichtlich des integralen Charakters des Existierenden notwendigen Monsterwesen zu setzen. [2] Die schwankende Haltung in der Einstellung zu diesen Kreaturen ist praktisch für das ganze europäische Mittelalter kennzeichnend.
Eine nicht gerade eindeutige Antwort gibt Ende des 13. Jahrhunderts sogar eine solche Autorität wie Pierre d'Auvergne (gest. 1304), Bischof von Clairmont und Rektor der Pariser Universität. [3] Erst Anfang des 14. Jahrhunderts ist der als Missionar nach China [4] entsandte Odoricus von Pordenone einigermaßen geneigt, die Pygmäen als vernunftbegabte menschliche Wesen zu akzeptieren. [5]
Doch der große Dominikanerlehrer Albertus Magnus (Abb. 2) hält sie für eine Zwischenform zwischen dem Menschen und den Affen und bringt ihr Auftauchen, sich auf Avicenna berufend, mit dem Umstand in Verbindung, dass bei der Befruchtung nur ein kleiner Teil des Samens des Vaters in den Mutterschoß gelangt ist. [6] [7] Auch der "Gelehrte Konrad von Megenberg (1309-1374) führte [...] in seinem Buch der Natur (Buch VIII, Kap. 2) aus, dass die Größe eines Menschen von der Fülle und Kraft des männlichen Samens abhängig sei." Zudem nannte er als "Lebensort der >zwey daumen< großen Pygmäen [...] einen hohen Berg in Indien." [8]
Nikolaus von Oresme (Abb. 3), ab 1377 Bischof von Lisieux und einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler des 14. Jahrhunderts, präsentierte in seinem Werk De causis mirabilium eine komplexe Abhandlung zur Teratologie jener 'monströsen' Wesen, über die in der Antike berichtet wurde, und zu denen auch die Pygmäen gehörten. "Seiner Meinung nach befanden sich diese Missbildungen und fabulösen Wesen durchaus innehalb des göttlichen Schöpfungsplans. Sie sollten nicht in irgendeiner Weise als unheilverkündend interpretiert [...], sondern vielmehr als Ergebnis einer Unzulänglichkeit bei der Empfängnis oder bei der nachfolgenden Entwicklung gesehen werden, womöglich verursacht durch die materielle Umwelt, welche entweder zu herb, zu feucht oder zu arid sei." Darüber hinaus kam aber auch er zu der Einschätzung, "dass Mangelhaftigkeit oder Fehlbildung des männlichen Spermas die Ursache der Deformierungen und Eigentümlichkeiten der sagenhaften Rassen seien." Oresme "betrachtete diese Wesen als eine Art Vorstufe in der menschlichen Entwicklung. Somit wurden die Pygmäen, welche die Scholaren als wichtigstes Beispiel für die sagenhaften Rassen heranzogen, als auf einer Entwicklungstufe stehend erachtet, die sich irgendwo zwische Affen und Menschen befindet, eine überraschend moderne und darwinistische Art von Lösungskonzept." [9]
Zusammenfassung:
Bei den im europäischen Mittelalter erfolgten Diskussionen bzw. Betrachtungen der Pygmäen wurde deren Existenz praktisch nicht in Frage gestellt, und auch die skurrilen Übertreibungen wurden zumeist geglaubt sowie zu deuten versucht. Im Vordergrund stand das theologische Problem ihrer Einordnung in die Gesamtheit der göttlichen Schöpfung. Sind Pygmäen und vergleichbare Wesen menschlicher, tierischer oder gar dämonischer Natur? Sie wurden, wie es der Historiker Michael Schnell formuliert, "im Kontext der Diskussion über die Unterschiede zwischen Mensch und Tier angeführt: Was macht ein Tier aus, was den Menschen?" [10]
- Fortsetzung: Pygmäen (Teil 3) - Eine historisch-kryptoanthropologische Betrachtung
Anmerkungen und Quellen
Fußnoten:
- ↑ Anmerkung bei Wikipedia: Ezechiel 27,11: filii Aradii cum exercitu tuo erant super muros tuos in circuitu sed et Pigmei qui erant in turribus tuis faretras suas suspenderunt in muris tuis per gyrum ipsi conpleverunt pulchritudinem tuam. Pigmei ist hier eine Übersetzung des hebräischen Wortes Gammadim, eine andere Übersetzung lautet „tapfere Krieger“.
- ↑ Siehe: Aurelius Augustinus, "De civitate Dei", XVI 8. - Vgl. Tz. Bojadjiev, "Die Renaissance des 12. Jahrhunderts", S. 113
- ↑ Vgl.: Martin Gusinde, "Kenntnisse und Urteile über Pygmäen in Antike und Mittelalter" (Nova Acta Leopoldiana, XXV), Leipzig (Barth) 1962, s. 18ff.
- ↑ Anmerkung: "Die Pygmäensage mit dem Kranichkampf" soll, wie es bei der Wikipedia heißt, "bis nach China verbreitet" gewesen sein. Sie "findet sich in chinesischen Enzyklopädien des 7. bis 9. Jahrhunderts n. Chr., wo die Größe der Pygmäen mit umgerechnet ca. 90 cm angegeben wird." Siehe: Pietro Janni: Etnografia e mito, Rom 1978, S. 59 f. (Quelle, 06. Okt. 2015)
- ↑ Vgl.: Cl. Lecouteux, Les nains, S. 30
- ↑ Siehe: Albertus Magnus, "De animalibus", XXI 11-13
- ↑ Quelle: Cočo C. Bojadžiev und Tzotcho Boiadjiev, "Die Nacht im Mittelalter", Königshausen & Neumann, 2003, S. 176
- ↑ Quelle: Michael Schnell, "Kleine Geschichten aus der Frühen Neuzeit: Zwerge, Pygmäen, Erdmännlein (Teil 1: Die Pygmäen)", 3. Aug. 2015, bei: WebHistoriker - Ein Portal zur Geschichte der Frühen Neuzeit (abgerufen: 10. Okt. 2015)
- ↑ Quelle: Rudolf Simek, "Heaven and Earth in the Middle Ages: The Physical World Before Columbus", Boydell & Brewer, 1996, S. 91 (Übersezung ins Deutsche durch Atlantisforschung.de nach der digitalen Leseprobe bei Google Books)
- ↑ Quelle: Michael Schnell, op. cit. (abgerufen: 10. Okt. 2015)
Bild-Quellen:
- 1) Chris 73 bei Wikimedia Commons, unter: File:Nuremberg chronicles - Strange People - Pygmy (XIIr).jpg
- 2) Sailko bei Wikimedia Commons, unter: File:Tommaso da modena, ritratti di domenicani (vescovo) 1352 150cm, treviso, ex convento di san niccolò, sala del capitolo.jpg
- 3) Leinad-Z~commonswiki bei Wikimedia Commons, unter: File:Oresme.jpg (Bild-Bearbeitung durch Atlantisforschung.de)