Die Hethiter (II)

Diffusionistische Hypothesen: Die Hethiter als Amerika-Reisende

Abb. 5 Der US-amerikanische Autor und Privatforscher Frank Edwards (1908-1967). Er popularisierte 1964 die Annahme einer hethitischen Präsenz in Nordamerika.

(bb) Während die Hethiter in der konventionellen Forschung nicht gerade als herausragende Nautiker betrachtet werden, 'schwimmt' David Hatcher Childress auch in dieser Hinsicht 'gegen den Strom'. Er bezeichnet sie nämlich, wie Tony O’Connell bemerkt, als "großartige Seefahrer", die sogar Amerika erreicht haben sollen. Zudem " schreibt er ihnen die Ausbeutung der riesigen amerikanischen Kupfer-Vorräte des nördlichen Michigan [1] zu." [2] [3]

Bezüglich seiner Annahme einer hethischen 'Amerika-Connection' - beruft Hatcher Childres sich u.a. auf seinen Landsmann, den Sachbuch-Autor, Privatforscher und Radio- sowie Fernsehmoderator Frank Edwards (1908-1967) (Abb. 5), für den die Anatolier nur "eine von vielen altertümlichen Kulturen " der Alten Welt waren, die "über den Atlantik nach Amerika reisten." [4] So verweist Hatcher Childres z.B. auf das Kapitel "Who was first in America?" in Edwards’ Buch "Strange World" [5] Darin berichtet Edwards zum Beispiel über den Fund eines krypto-archäologischen Artefakts, den ein Fischer namens Elwood D. Hummel im Jahr 1921 in Pennsylvanien machte:

"Er fischte am Susquehanna River in der Nähe seines Hauses in Winfield [im Union County (Abb. 6); d.Ü.], Pennsylvania. Elwood war ein Fliegenfischer und er watete häufig durch die seichten Bereiche des Susquehanna. Eines Tages blickte er zufällig hinab ins klare Wasser und bemerkte dabei einen kleinen flachen Stein, auf dem sich einige Markierungen zu befinden schienen. Er hob ihn auf und erkannte, dass es sich um eine Art gebrannten Lehm handelte, bedeckt mit kleinen Zeichen, die ihm unverständlich waren. Seltsam genug, aber momentan nicht von Interesse für ihn, steckte Elwood ihn in die Tasche seines Fischermantels.

Abb. 6 Die geographische Lage des Union County in Pennsylvanien. Dort soll 1921 nahe der Ortschaft Winfield eine Tontafel mit hethitischen Schriftzeichen entdeckt worden sein.

37 Jahre lang ließ Mr. Hummel den kuriosen kleinen Stein in seinem Fischerzeug herumklappern. Dann fand ihn eines Tages eines seiner Enkelkinder und begann, ihn als Spielzeug zu benutzen." Dadurch wurde der Stein gewissermaßen poliert und "die Markierungen wurden deutlicher." Neugierig geworden, schickte Hummel das Artefakt dem Kurator des Field Museum in Chicago. "Dort identifizierten und übersetzten die Experten prompt die seltsamen kleinen Markierungen. Sie entzifferten sie als [Niederschrift zu einem] kleine[n] Darlehen an einen assyrischen Händler in Kappadokien, etwa 1800 Jahre vor Christus." [6]

Abb. 7 Die Glyphen auf dem Newberry Tablet (Foto: Archiv Roger L. Jewell)

Zudem führt Hatcher Childress in diesem Zusammenhang ausführlich die - naturgemäß umstrittenen - Funde auf, die im November 1886 auf einer Farm in der Nähe von Newberry, Michigan, gemacht wurden. Dort entdeckten zwei Waldarbeiter beim Entwurzeln eines Baumes drei Statuen aus Stein und eine kleine, beschriftete Tontafel. (Abb. 7) Diese rechteckige Tafel, das so genannte "Newberry Tablet" [7], enthielt ein Raster mit 140 fremdartigen Schriftzeichen, weche damals unentzifferbar waren. Jahrzehmte später identifizierte sie der diffusionistische 'Erz-Häretiker' Barry Fell als "hethisch-minoische" (engl.: Hittite-Minoan [8]) Schrift.

Während Tony O’Connell (op. cit., 2009) bei seiner Kritik an David Hatcher Childress’ Vorstellungen zur vermuteten Präsenz von Hethitern in Nordamerika nach Ansicht des Verfassers über's Ziel hinausschießt, wobei er insbesondere das sprichwörtliche 'Kind mit dem Badewasser' ausschüttet, indem er - wohl unter dem Eindruck eines Papiers der konventionell argumentierenden Archäologin Susan R. Martin [9] - die Möglichkeit eines Kupfer-Abbaus in den altertümlichen Minen von Michigan durch Menschen aus der 'Alten Welt' mehr oder weniger verwirft, können wir uns seiner Kritik in einem weiteren Fall sehr weitgehend anschließen.

Abb. 8 Die Petroglyphen auf dem großen Felsen von Ingá in Brasilien - Indiz für eine hethitische Präsenz in Südamerika?

Gemeint sind damit die höchst spekulativen Hypothesen des italo-brasilianischen Privatforschers Gabriele d’Annunzio Baraldi (1938-2002), der nicht nur 1983 Atlantis in Brasilien lokalisierte, sondern 1997 auch eine Reihe, vorsichtig formuliert, höchst gewagter Annahmen zur einstigen Präsenz von Hethitern in seiner südamerikanischen Wahlheimat vorstellte. [10] Genauer gesagt behauptete er "dass die Hethiter in Brasilien ein Reich aufbauten, wofür er als Beweis die Petroglyphen des [großen] Felsens von Ingá (Abb. 8) anbot." [11] Halten wir dazu zunächst einmal fest, dass Baraldi keineswegs ein versierter Epigraphiker war und dass besagte Petroglyphen nur mit geradezu überschäumender Phantasie mit den oben erwähnten 'hethisch-minoischen' Schriftzeichen, und erst recht nicht mit der von den Hethitern verwendeten Keilschrift in Verbindung zu bringen sind.

Außerdem ist zu betonen: Zwar mögen auch die Hethiter (allerdings nur unter "ferner liefen") zu denjenigen Völkern der 'Alten Welt' gehört haben, deren Seeleute bereits lange vor den Wikingern und Kolumbus den Sprung über den Atlantik schafften [12] und dort sogar Spuren hinterließen; Kolonien oder gar ein Reich haben sie mit einiger Sicherheit weder in Nord- noch in Mittel- oder auch Südamerika gegründet und - was David Hatcher Childress’ oben angesprochene Ideen betrifft - sie kommen wohl auch kaum als Betreiber der uralten Kupfer-Bergwerke von Michigan infrage.

Halten wir nun noch abschließend fest, dass die Annahme, hethitische Exploratoren, Händler usw. könnten bis nach Amerika gelangt sein, keineswegs erst mit dem Aufkommen 'grenzwissenschaftlicher', alternativer Ur- und Frühgeschichtsforschung vor wenigen Jahrzehnten entwickelt wurde. Die Ehre, diese außenseiterische Hypothese bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt zu haben, gebührt dem schottisch-kanadischen Priester und Universalgelehrten (Ethnologe. Historiker, Linguist etc.) John Campbell (1840-1904). Viele seiner Schriften zur Protohistorie der Alten Welt (speziell des Orients) sowie zum präkolumbischen Nordamerika sind online abrufbar, und man darf ihn wohl als 'Vorreiter' des modernen Diffusionismus mit seinem zentralen Postulat präkolumbischer Kontakte zwischen 'Alter' und 'Neuer Welt' bezeichnen. 1881 veröffentlichte Campbell, der zu den Pionieren der Hethitologie [13] zählt, seine Abhandlung "Hittites in America" [14], in der er ausführlich auf dieses Thema einging.



Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Siehe dazu einführend: William R. Corliss, "Gesucht: 500 000 Tonnen Kupfer"; sowie weiterführend: Bernhard Beier, "Prähistorischer Kupferbergbau in Nordamerika und eine frühe Transatlantik-Connection"
  2. Siehe: David Hatcher Childress, "Lost Cities of Atlantis, Ancient Europe & the Mediterranean", Adventures Unlimited Press, 1996, Kap. 2
  3. Quelle: Tony O’Connell, "Hittites", 29. November 2009, bei Atlantipedia.ie (abgerufen: 16. September 2007; Übersetzung ins Deutsche durch Atlantisforschung.de)
  4. Quelle: David Hatcher Childress, op. cit. (1996), S. 62 (Übersetzung ins Deutsche durch Atlantisforschung.de)
  5. Siehe: Frank Edwards, "Strange World", New York (Ace Books), 1964 (1992 erschien eine Neuauflage)
  6. Quelle: Frank Edwards (1964); nach: David Hatcher Childress, op. cit. (1996), S. 62 (Übersetzung ins Deutsche durch Atlantisforschung.de)
  7. Siehe dazu auch: Henriette Mertz, "The Lost Gods and Tablet of Prehistoric Michigan", online bei Ancient America - The Ongoing Exploration; sowie als Beispiel für pseudoskeptisches 'Debunking' dieses inzwischen fast völlig zerstörten Artefakts: ArchyFantasies (Pseudonym der Autorin), "The Newberry Tablet", bei Archaeology Fantasies (beide abgerufen: 18. September 2017)
  8. Anmerkung: Tony O’Connell (op. cit., 2009) behauptet im Rahmen seiner Zurückweisung von Hatcher Childress’ 'Hethiter in Amerika'-Hypothese: "...there is no such language as Hittite-Minoan..." Dies ist aber nur insofern richtig, dass es sich dabei nicht um eine Sprache, sondern um eine Schrift handelt. Die Verwendung des Begriffs 'Hittite-Minoan' (Hethitisch-Minoisch) mag zwar in der professionellen Linguistik bzw. Paläographie ungebräuchlich (womöglich sogar verpönt) sein, hat aber trotzdem ihre Berechtigung. Siehe dazu z.B.: "What is meant by Hittite-Minoan?" sowie: "Hittite/Minoan 2", beide online bei Kessler's Hand (abgerufen: 17. September 2017)
  9. Siehe: Susan R. Martin, "The State of Our Knowledge About Ancient Copper Mining in Michigan", in: The Michigan Archaeologist 41(2-3):119-138, 1995)​; archiviert bei Atlantipedia.ie (abgerufen: 18. September 2017)
  10. Siehe: Gabriele d’Annunzio Baraldi, "Os Hititas Americanos", São Paulo (Imega-Edicon), 1997
  11. Quelle: Tony O’Connell, op. cit., 2009 (Übersetzung ins Deutsche durch Atlantisforschung.de)
  12. Siehe dazu zahlreiche Beiträge in unseren Sektionen "Präkolumbische transatlantische Kontakte" und "Präkolumbische transpazifische Kontakte".
  13. Siehe: John Campbell, "The Hittites; their inscriptions and their history", Toronto (Williamson), 1890 (2 Bände)
  14. Siehe: John Campbell, "Hittites in America", in: The Canadian Naturalist, Vol. 9, No. 6., 1881

Bild-Quellen:

5) Lone Wolfs (Uploader) bei Wikimedia Commons, unter: File:Frank Edwards writer.png
6) David Benbennick (Urheber) bei Wikimedia Commons, unter: File:Map of Pennsylvania highlighting Union County.svg
7) Bild-Archiv Roger L. Jewell, nach: Roger L. Jewell bei Google+
8) Wikimedia Commons, unter: File:Cabaceiras apn abril2006 a 002.jpg; nach: Tony O’Connell, "Hittites", 29. November 2009, bei Atlantipedia.ie (abgerufen: 16. September 2007)