James H. Anderson: Riddles of prehistoric times (1911)

Ein vergessener Autor und sein Werk

"Atlantis ist kein Mythos, sondern war in der Tat eine große Insel im Atlantischen Ozean, die schon vor langer Zeit während einer glazialen Periode vom Meer verschlungen wurde." James H. Anderson (1911)

Eine kurze Vorbemerkung

Abb. 1 James H. Anderson, der Autor von "Riddles of prehistoric times"

(bb) Wer sich einem eingehenden Studium [1] der Atlantologie-Historik widmet, wird immer wieder von der Fülle relevanten Materials überrascht, das bisher auch in der Fachwelt weitgehend unbekannt ist und erst noch für die Forschung erschlossen sowie gründlich ausgewertet werden muss. Zu diesem Material gehört auch das 1911 erschienene Buch Riddles of Prehistoric Times (Abb. 2) [2] von James H. Anderson (Abb. 1), das immerhin genau 100 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung neu verlegt wurde [3], aber auch in digitalisierter Form im Internet frei abrufbar ist. Dieses, wenn auch naturgemäß etwas 'angestaubte', so doch noch immer spannend zu lesende Buch, in dem das Atlantis-Problem keine geringe Rolle spielt, möchten wir nachfolgend etwas näher vorstellen, wobei wir uns auf seine atlantologischen bzw. atlantologie-geschichtlich relevanten Aspekte konzentrieren. Das Thema 'Lemuria', das Anderson ebenfalls intensiv behandelt, werden wir hier nur ganz kurz anschneiden, aber an anderer Stelle [4] noch ausführlich vorstellen.

Wer war James H. Anderson?

Was den Verfasser des (im Original) immerhin 310 Seiten umfassenden Werkes betrifft, so lassen sich bisher kaum gesicherte Angaben über ihn machen, wobei seine Identifizierung unter anderem dadurch erschwert wird, dass es, wie der Atlantologie-Enzyklopädist Tony O’Connell in einer kurzen Notiz [5] über Anderson und sein Werk bemerkt, mehrere Autoren dieses Namens gab. Was ihn betrift, so sind wir - zumindest derzeit - noch auf Rückschlüsse angewiesen, die sich aus seinem Buch bzw. aus dessen Inhalt ziehen lassen. So dürfen wir, da es in den USA publiziert wurde, annehmen, dass auch Anderson dort lebte. In Hinblick auf das darin zu findende, nebenstehend abgebildete Foto des Autors, das ihn als Mann in mittleren Jahren zeigt, ist zudem zu vermuten, dass er zur Mitte bzw. in der frühen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren wurde.

Wie Leser/innen seines Buches trotz des Fehlens einer Bibliographie unschwer feststellen können, war James H. Anderson ein höchst gebildeter und ungemein belesener Mann, der vermutlich in seiner Jugend ein universitäres Studium absolviert hat. Wie die meisten Amerikaner - Wissenschaftler mit eingeschlossen - bekannte er sich zum Christentum, aber ein christlicher Fundamentalist oder Dogmatiker war er mit Sicherheit nicht. Dies wird nicht nur in seiner Behandlung 'alttestamentarischer' Themen [6] deutlich, sondern vor allem auch in einem regelrechten Plädoyer für religiöse Freizügigkeit, das er im abschließenden Kapitel (XIX, Iconoclasts) seines Buches hält: "Jede Person auf der Welt hat das Recht, religiöse Angelegenheiten mit den Augen und dem Geist zu betrachten, die der Schöpfer ihm zu ihrer Verwendung schenkte." [7]

Abb. 2 Das Titelblatt der Original-Ausgabe von Andersons "Riddles of Prehistoric Times" aus dem Jahr 1911

Zudem beklagte Anderson ausdrücklich die negativen Auswirkungen von religiöser Intoleranz und Fanatismus auf die Vergangenheitsforschung, wozu er erklärte: "Viele der Evidenzen, die mit den altertümlichen Völkern zu tun haben, sind willentlich von religiösen Fanatikern zerstört worden, Männern, die von der Idee erfüllt wurden, dass ihre religiösen Vorstellungen absolut wahr, und alle anderen völlig falsch waren. In ihrem blinden, vernunftlosen Eifer vernichteten sie nicht nur Tempel, sondern auch die Verehrer [anderer Gottheiten] darin. Die Konflikte, die aus diesem Motiv erwuchsen, hat es in allen Teilen der Welt und zu allen Zeiten gegeben. Im Ergebnis wurden viele Dinge zerstört, welche für ernsthafte Sucher nach altertümlichen Vorstellungen wertvoll wären." [8]

James H. Anderson und Atlantis

Und damit kommen wir zu James H. Andersons Buch, "in dem er", wie Tony O’Connell charakterisierend bemerkt, "diverse prähistorische Rätsel bespricht, die im frühen 20. Jahrhundert die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zogen. Dabei bezog Anderson verständlicherweise auch Atlantis mit ein, das er sich als kolossale Insel von kontinentaler Größe (Abb. 3) im Atlantik vorstellt." [9] Ähnlich wie vor ihm bereits Ignatius Donnelly [10] betrachtete auch Anderson Atlantis im Sinne eines heliozentrischen Diffusionismus als Mittelpunkt der prähistorischen Welt, aber - im Unterschied zu diesem, und quasi Ideen von Robert B. Stacy Judd [11] vorwegnehmend - bereits nicht mehr als 'Urkultur' der Menschheit. Vielmehr greift er - gänzlich unesoterisch - die Vorstellung von Lemuria als einer prägenden prä-atlantischen Menscheitskultur auf, wozu er schreibt:

"Alle alten prähistorischen Zivilisationen waren sich sehr ähnlich und bezogen ihre Inspirationen und Vorstellungen aus einer gemeinsamen Quelle. In sehr alten Zeiten versah Lemuria die Völker [damit], welche Südasien, ganz Afrika, das südliche und westliche Europa bewohnten", und sorgte dafür, "dass deren Bewohner von einem kultivierteren Volk abgelöst wurden, das über eine lange Zeit hinweg eine höhere Kultur erworben hatte, indem es seine Architektur, seine Künste und seine Religion entwickelte. Jene Religion war die der Sonnenanbeter, welche auch die Phallus-Verehrung und die Verehrung der Schlange als Verkörperung der Weisheit umfasste. Sitz dieser Kultur war vermutlich die Insel Atlantis, wo eine sehr hohe Kulturstufe erreicht worden war. Die Herrscher dieser Insel wurden zu den Göttern aller besagten Völker." [12]

Abb. 3 Andersons Karte von Atlantis als imposante Großinsel im Atlantik

Im letzten Satz dieses Abschnitts lehnt sich Anderson unübersehbar an die sechste der 13 Kernthesen Donnellys an, doch obwohl er auch in manch anderer Hinsicht deutlich auf der Vorarbeit seinen berühmten Landsmanns aufbaut, erwähnt er dessen Werk an keiner Stelle. So ist z.B. schon Andersons atlantologischer kulturgeschichtlich-mytholo-
gischer Grundansatz dem von Donnelly sehr ähnlich. Beide bauen ihre heliozentrische Vorstellung eines urgeschichtlichen, panatlantisch ausstrahlenden Zivilisations-Zentrums der Menschheit auf Vergleichen alter Religionen und Überlieferungen sowie althergebrachter, gemein-
samer materieller Kulturgüter der Menschen verschiedener Kontinenten auf.

In geologischer und bio-geographischer Hinsicht griff Anderson, der Atlantis übrigens an keiner Stelle seiner Abhandlung als 'Kontinent' bezeichnete, zur Erklärung interkontinentaler Verbreitungs-Phänomene auf die - auch von namhaften Biologen und Geologen seiner Zeit vertretene [13] - Landbrücken-Theorie zurück. Dazu heißt es bei ihm:

"Die Existenz von Menschen, Gerätschaften, Pflanzen und Bäumen auf den Kontinenten Amerikas, die fast identisch mit jenen sind, die auf den Kontinenten Afrikas und Europas gefunden wurden, scheint nahezu-
legen, dass zu irgendeiner Zeit in der Vergangenheit eine Landverbindung zwischen den Kontinenten bestanden hat. Die Pflanzen, deren Existenz man
[auch] auf der anderen Seite des Ozeans festgestellt hat, scheinen von der Ostküste her auf den westlichen Kontinent gekommen zu sein; nur sehr wenige Spezies waren dazu in der Lage, ihren Weg auf die Westseite der Rocky Mountains zu finden. Die Banane oder Kochbanane, im tropischen Afrika oder Asien beheimatet, wurde in Mexiko und in Südamerika gefunden, sowie auch auf den Westindischen Inseln. Wie konnte diese Pflanze, die samenlos ist und eine Seereise [als Treibgut: bb] nicht übersteht, nach Amerika gelangen? Ihre Wurzel ist baumartig und erfordert beim Transport große Behutsamkeit. Sie muss über einen langen Zeitraum hinweg vom Menschen kultiviert worden sein, um zu dem zu werden, was sie heute ist." [14]

Letztlich sprach Anderson sich - losgelöst von der Frage nach der Existenz vorzeitlicher Landbrücken - für den Mittelatlantischen Rücken als eine Art 'Rückgrat' der von ihm postulierten Großinsel Atlantis aus: "Mit der Hilfe von Tiefsee-Lotungen ist das Bett des Atlantischen Ozeans kartiert worden, wobei sich gezeigt hat, dass ein stark erhobener Rücken existiert. Dieser Rücken erstreckt sich von etwa fünfzig Grad nördlicher Breite, gen Südwesten hin zur Küste Südamerikas, von dort in südöstlicher Richtung zur Küste von Afrika hin, dann nach Süden zur Insel Tristan da Cunha [15] Dieser Rücken erhebt sich zu beiden Seiten in etwa 9000 Fuß [ca. 2743 m; d.Ü.] über die sie umgebenden ozeanischen Tiefen; die Azoren, St. Paul, Ascension und Tristan da Cunha sind Bergspitzen, deren Kuppen über Wasser bleiben. Der Atlantik ist in einigen Teilen etwa 21.000 Fuß [ca. 6400 m; d.Ü.] tief. Der Gipfel dieses Rückens oder dieser Ebene liegt an einigen Stellen nur wenige hundert Fuß unter der Meeresoberfläche, wobei die Oberfläche dieser Ebene [...] mit vulkanischen Ablagerungen bedeckt ist." [16]

Halten wir abschließend fest: Andersons Riddles of Prehistoric Times - zwangsläufig in vielen Punkten veraltet - ist in Bezug auf die Atlantisforschung sebstredend vor allem von atlantologie-historischem Interesse, insbesondere hinsichtlich der Fortentwicklung der 'klassischen' Theorie eines Atlantis im Atlantik während des 20. Jahrhunderts. Bei genauerem Hinsehen finden sich darin aber auch (in den diversen anderen Kapiteln des Buches, die hier nicht behandelt werden konnten), zwischenzeitlich in Vergessenheit geratene Detail-Informationen zu prä- und protohistorischen Kulturen, die - bei kritischem Umgang mit ihnen - bisweilen auch für den Diskurs in der heutigen alternativen Ur- und Frühgeschichtsforschung nutzbringend erscheinen.


Anmerkungen und Quellen

Fußnoten:

  1. Anmerkung: Gemeint ist hier natürlich ein autodidaktisches Studium im Rahmen individueller Privatforschung (citizen science). Im universitären Bezirk gibt es nach wie vor kaum eine Möglichkeit zu - notwendigerweise interdisziplinär anzulegenden - akademischen Studien des Atlantis-Problems oder der Atlantologie-Historik.
  2. Siehe: James H. Anderson, "Riddles of Prehistoric Times", New York, Baltimore [etc.] (Broadway publishing company), 1911 (online bei Archive.org)
  3. Siehe: James H. Anderson, "Riddles of Prehistoric Times", Read Books Design, 2011 --- Anmerkung: Nach Fertigstellung dieses Beitrags hat der Verfasser entdeckt, dass es schon 2009 eine Neuauflage des Buches gab. Die bisher jüngste Ausgabe erschien offenbar 2017.
  4. Anmerkung: Siehe dazu bei Atlantisforschung.de als Erstveröffentlichung in deutscher Sprache: James H. Anderson, "Das Rätsel des versunkenen Kontinents Lemuria" - Die Ursprünge des Ahnenkults und atavistischer Formen des Götterglaubens
  5. Siehe: Tony O’Connell, "Anderson, James H. (N)", 13. September 2016, bei Atlantipedia.ie (abgerufen: 09. Februar 2018)
  6. Siehe z.B.: Kapitel X ("AS IT IS WRITTEN"), S. 148-154
  7. Quelle: James H. Anderson, op. cit., S. 254
  8. Quelle: ebd., S. 251
  9. Quelle: Tony O’Connell, "Anderson, James H. (N)", 13. September 2016, bei Atlantipedia.ie (abgerufen: 09. Februar 2018; Übersetzung ins Deutsche durch Atlantisforschung.de)
  10. Siehe: Ignatius Donnelly, "Atlantis: The Antediluvian World", New York City (Harper & Brothers), 1882
  11. Siehe: Robert B. Stacy-Judd, "Atlantis - Mother of Empires", orig. 1939; Reprint bei Adventures Unlimited Press, Kempton, Illinois/USA, (März) 1999
  12. Quelle: James H. Anderson. op. cit., S. 127-128
  13. Siehe z.B.: Robert Francis Scharff, "Atlantis, der verschollene Kontinent" (1913): sowie: Edward Hull, "The Sub-Oceanic Physiography of the North Atlantic", London, 1912
  14. Quelle: James H. Anderson, op. cit., S. 146-147
  15. Anmerkung: Im Originaltext wird die Insel bei Anderson "Tristan D Acumba" genannt.
  16. Quelle: James H. Anderson, op. cit., S. 143-144

Bild-Quelle: