Iere - Überlieferungen auf St. Vincent

Abb. 11 Auch auf der In- sel St. Vincent gab es offen- sichtlich die Legende vom Urzeitreich Iere, von ver- sunkenen Landmassen, so- wie eine Variante des alt- amerikanischen Viracot- cha-Mythos.

(bb) Eine weitere, von Wilkins zitierte, Quelle stammt von der Insel St. Vincent (Abb. 11): "Eine alte Frau, die in der Kariben-Siedlung auf der Insel St. Vincent lebte, erzählte einer englischen Lady aus meinem Bekanntenkreis die selbe Überlieferung von einem Großen Land, das nach einem kolossalen Erdbeben im Meer verschwand. Es war eine Geschichte, die sie genau gehört hatte, als sie noch ein kleines Kind war. >Das Wasser brach [ins Land] ein<, sagte sie, >und schuf die Inseln; doch einige der Inseln, so hatte man ihr gesagt, stellten in Wirklichkeit Teile dieses alten Großen Landes dar: so etwa Trinidad, die Westindischen Inseln und Barbados.

Diese alte Frau BESTAND darauf, dass [bestimmte] religiöse Riten NICHT von modernen irischen Siedlern auf den Westindischen Inseln eingeführt wurden... Nein, sagte sie, Die Feierlichkeiten wurden vor vielen tausend Jahren von der Großen Schlange angeordnet. Sie dienten dazu, >böse Gei- ster< zu verjagen, >die in den Kratern der erloschenen Vulkane hau-sten<. Die Karibier, sagte sie, seien die wahren Eigentümer des Großen Landes - Iere – gewesen und sie hätten einen König gehabt, dessen Krone aus drei Teilen bestand. [...] Diese dreifache Gold-Krone trug er, weil er, wie die Karibierin sagte, drei Söhne und drei Töchter hatte, und jeder Sohn heiratete eine der Töchter. Wie wir wissen, waren Heiraten dieses Typs unter Verwandten ersten Grades im pharaonischen Ägypten, im Peru der Inka und, wie einige sagen, zu einer bestimmten Zeit auch in Atlantis oder auf einigen ihrer kontinentalen Inseln üblich. [1]

Einer der Königs-Söhne ging nach Süden, einer nach Südwesten und einer nach Norden. Die Karibier jener Zeit mussten, wie sie sagt, >nicht laufen, sofern sie das nicht wollten. Ihre weisen Leute konnten ganz einfach fliegen. Nein, Flügel hatten sie nicht. Sie machten es so, dass sie auf goldene Platten klopften, Musik machten, und dann flogen sie." (+30) Auch die alte Insulanerin auf St. Vincent beschreibt jene hohe Zeit Ieres als eine Art 'Goldenes Zeitalter', das durch die Verderbtheit eines Teils der Menschheit ein Ende fand: "Alle feierten, tanzten und sangen. Niemand war jemals arm oder hungrig. So überkam sie alle der Stolz und jedermann wollte König sein. Und einige sehr schlechte Leute stahlen ein heiliges Feuer und vernichteten viele Menschen, weil sie Unrecht taten." (+31)

In der Schilderung des Untergangs des urzeitlichen Karibik-Reiches stimmt der Iere-Mythos von St. Vincent mit den Schilderungen aus Grenada überein. Dazu weiß die alte Frau zu berichten: "Die Leute sagen, es war wie bei `ner großen Explosion. Alles zerbrach. Das ganze Land zerfiel, so wie ein zerbrochener Wasserkrug. Und die Wasser kamen zwischen all die Stücke, die übrig geblieben waren, und machten aus ihnen Inseln. Und da gab es viel Blutvergießen." Wilkins bemerkt dazu: "Sie konnte nicht sagen, warum oder wann sich dieses Blutvergießen ereignete", aber er zitiert sie weiter mit folgender Anmerkung: "Der König war sehr wütend. Er sagte, dass die See über sie alle kommen werde, und niemand werde wissen, dass es sie je gegeben hat." (+32)

Auch die native Karibierin von St. Vincent präsentiert uns eine Variante des Mythos um Quetzalcoatl-Viracotcha-Bochicha: "Ein sehr guter Mann kam aus dem Osten und schuf all die kleinen Inseln und rettete viel gute Karibier. Aber hunderte und tausende Jahre lang herrschten schreckliche Zeiten. Überall spuckten Vulkane Feuer, und es regnete immerzu und alles wurde überflutet, und bald barsten eines Tages die Himmel, die Erde brach auf und das Große Land verschwand völlig, wie der König es [voraus-] gesagt hatte." (+33) Und sie bemerkt weiter: "Nach dieser schrecklichen Zeit konnte niemand mehr in den Osten und zum Land der aufgehenden Sonne gelangen, weil man keine großen Boote mehr hatte, sondern nur noch kleine. Und fliegen konnte auch niemand mehr und man musste hart für seinen Lebens-Unterhalt arbeiten." (+34)

Die von Wilkins erwähnten Überlieferungen auf St. Vincent scheinen, wenn man sie korreliert (+35), in einigen Punkten präziser zu sein als diejenige aus Grenada oder Trinidad, da zwischen mehreren kataklysmischen Perioden unterschieden bzw. ein längerer Prozess angedeutet wird, in dem das alte Iere in mehreren 'Schüben' zerbrach. (+36) Interessant ist auch die folgende Feststellung der Erzählerin, auf die Wilkins hinweist: "Danach gab es keinen König mehr, und all die Menschen, die sich auf die Inseln des Heiligen Mannes gerettet hatten, mussten selbst für sich sorgen, bis sie alle<, mit Ausnahme einiger ihrer Vorfahren, >von dem neuen Volk getötet wurden, das aus dem Osten kam<." (+37)

Das Reich von Iere soll demnach also trotz der kataklysmischen Umwälzungen, von denen unsere - putativ uralt-karibischen - Quellen berichten, zunächst noch für eine gewisse Zeit als zentral regierte Monarchie weiter existiert haben, bis eine weitere Periode von Katastrophen seinen Untergang als politisches Gebilde besiegelte und sich auf den restlichen oder neu ge bildeten Inseln - mehr oder weniger - isolierte Kulturen herausbildeten. Wesentlich ist auch die Bemerkung, die Nachfahren der karibischen Ureinwohner, die den großen Kataklysmus überlebt hatten, seien später von Neuankömmlingen "aus dem Osten" fast alle getötet worden.


Fortsetzung:

Eire - Das Iere des Ostens


Anmerkungen und Quellen

  1. Anmerkung: Solchen Aussagen aus namentlich ungenannten Quellen ("wie manche sagen") ist aus atlantologischer Sicht mit äußerstem Mißtrauen zu begegnen. Platon (als "Primär-Quelle" zu Sitten und Gebräuchen der Atlantier) hat jedenfalls KEINE derartigen Informationen hinterlassen. Die Annahme von Ehen unter Verwandten ersten Grades bei den Atlantiern stellt allenfalls einen sehr spekulativen Analogie-Schluss ohne jeden Beweis-Charakter dar!


(+30) Quelle: Wilkins (1952), S. 68, 69

(+31) Quelle: ebd., S. 69

(+32) Quelle: ebd.

(+33) Quelle: ebd., S. 69

(+34) Quelle: ebd., S. 70

(+35) Anmerkung: KORRELIEREN = 1.) einander bedingen, miteinander in Wechselbeziehung stehen; 2.) hier: miteinander in Wechselbeziehung bringen (= ein KORRELAT erzeugen), durch vergleichende Betrachtung Wechselbeziehungen suchen und aufzeigen.

(+36) Anmerkung: Mit einem solchen Langzeit-Szenario mehrerer Untergangs-Phasen des Landes Iere ließe sich möglicherweise auch derjenige Teil des Berichts aus Trinidad erklären, in dem von einem Mangel von bejagbarem Großwild die Rede ist. Wenn wir voraussetzen, dass die Garten-Bauer und Sammler-Periode der Ur-Karibier in eine Zeit NACH der putativen Erst-Katastrophe fällt, dann wird verständlich, warum auf den verwüsteten Überresten des ersten Iere nur überlebende oder repatriierte Kleintiere und Vögel zu finden waren.

(+37) Quelle: Wilkins (1952), S. 69


Bild-Quelle

(11) http://www.sol-villa.co.uk/gallery/large/cape_st_vincent.jpg