Kulturelle Diffusion: ein interdisziplinäres Problem mit vielen Facetten
von unserem Gastautor Dr. Horst Friedrich, FMES
In einer kürzlichen Ausgabe von Migration & Diffusion [1] (Vol. 6/No. 21, 2005) findet sich ein interessanter Artikel von Bruno Wolters: "From Northeast Asia to Tierra del Fuego - History and Spreading Routes of Native American Steam Baths and Other Bath Therapies", in welchem bestimmte Evidenzen für eine Immigration von Nordost-Asiaten nach Nordamerika diskutiert werden.
In der Zusammenfassung dieses Artikels heißt es: "Ein Ansatzpunkt zur Datierung früher Kräuter-Dampfbäder [orig.: "herbal steam baths"; d. Ü.] ist die von der Archäologie bewiesene Tatsache, dass die Native Americans nach ihrer Einwanderung nach Amerika eine lange Zeit - 12 000 Jahre - brauchten, um die zirkumpolaren Pflanzen-Typen, die ihnen aus ihrer ursprünglichen Heimat in Nordost-Asien bekannt waren, gegen Pflanzen mit rein amerikanischer Verbreitung einzutauschen." (S. 78)
Ich erwähne diesen Artikel nur als eines unter vielen Beispielen von Autoren, die sich auf ein bestimmtes Sub-Problem kultureller Diffusion spezialisiert haben. Recht offensichtlich sind solche Arbeiten höchst verdienstvoll (solange ihre Autoren keine übertriebenen Schlussfolgerungen auf Grundlage begrenzter und lediglich selektiv ausgewählter Daten ziehen), da wir solche Forschungs-Daten benötigen, oder wir wären niemals in der Lage, etwas zu erhalten, was einem qalifizierten Urteil zu all den großen und vielfältigen Fragen kultureller Diffusion nahe kommt.
Aber (und dies ist ein großes ABER): Offensichtlich, da selbst-evident, haben solche Forschungs-Arbeiten von Spezialisten in der großen Mehrzahl der Fälle nur ein Sub-Problem, oftmals ein unwesentliches Sub-Problem des großen Gesamt-Feldes kultureller Diffusion im Blick. Dies soll nicht heißen, dass sie überflüssig oder irrelevant sind. All diese Informationen werden benötigt. Allein kann der Spezialist jedoch keine wohlbegründeten Schlussfolgerungen unter Berücksichtigung der großen und gewichtigeren Probleme ziehen. Aus diesem Grund brauchen wir den Generalisten.
Im sozusagen "scholastisch"-denkenden Mainstream finden wir häufig die seltsame Auffassung vor, der Spezialist sei der "wahre" Wissenschaftler. Das ist Nonsens. In Wirklichkeit ist der Generalist unverzichtbar und absolut notwendig. Natürlich benötigt er, im Vergleich mit dem Spezialisten, eine viel umfassendere Kompetenz, die nur in Jahrzehnten erworben werden kann. Doch wenn dies der Fall ist, dann ist der Generalist der einzige, der in der Lage dazu ist, zu einem vernünftigen Urteil über die breiter angelegten Probleme kultureller Diffusion zu kommen, da er alles vor Augen hat und daher imstande ist, das zu tun, wozu selbst eine Versammlung von vielen (sehr vielen!) Spezialisten nicht in der Lage wäre.
Es muss nicht betont werden, dass das Studium kultureller Diffusion von Natur aus ein interdisziplinares, facettenreiches Feld mit vielen Aspekten darstellt. Es ist, sozusagen, so riesig wie die Kontinente und Ozeane, und so vielschichtig wie die Menschheit mit all ihren Aktivitäten. Wegen der oben erwähnten Vorstellung vom Spezialisten als "wahrem" Wissenschaftler und der Aversion des akademischen Mainstreams dem Generalisten gegenüber erscheint unsere Zeit (oder ihr "Zeitgeist") nicht gerade vorteilhaft für breiter angelegte Studien dieser Art. Außerdem finden wir an unseren höheren Bildungs-Anstalten oft nur Lippenbekenntnisse zu interdisziplinären Studien.
Unter solchen Bedingungen ist es ziemlich offensichtlich, dass A) Studenten und jüngere Wissenschaftler nicht gerade ermutigt werden, kompetente Generalisten mit der Fähigkeit zu werden, schwierige Probleme kultureller Diffusion zu beurteilen, und B) Angehörige des wissenschaftlichen Mainstrams, die sich gegen generelle kulturelle Diffusion aussprechen, nicht über die notwendige Kompetenz verfügen, um sich in solchen Angelegenheiten zu äußern. Man könnte sie sogar der Scharlatanerie bezichtigen, denn ein Scharlatan wird als jemand charakterisiert, der Kenntnisse oder Kompetenz auf einem bestimmten Feld für sich in Anspruch nimmt, während sie ihm tatsächlich abgehen.
Für breiter angelegte Studien zur kulturellen Diffusion werden wir die folgenden Forschungsfelder in Betracht zu ziehen haben:
- Geographische Verbreitung von Sprachen, wechselseitige Beziehungen zwischen ihnen, Historische Linguistik.
- "Rassische" Verteilung (um einmal dieses höchst suspekte Kriterium zu verwenden) [2] und wechselseitige Beziehungen.
- Studien zur vergleichenden Religionsforschung, den wechselseitigen Beziehungen zwischen Religionen und den "Stamm-Bäumen" [orig.: "evolutionary trees"; d.Ü.] der Religionen.
- Geschichte der Seefahrt und des Schiffbaus.
- Die Geschichte der Wissenschaften auf der ganzen Welt, mögliche wechselseitige Beziehungen.
- Wechselseitige Beziehungen zwischen den verschiedenen schamanistischen Traditionen, z.B. das Problem, ob der Taoismus möglicherweise den mexikanischen Schamanismus beeinfusst hat.
- Manifestationen von Kunst, Architektur, Musik (z.B. die Verbreitung der pentatronischen Musik), Kultur des Gartenbaus, Verwendung der Aquädukte und andere Zivilisations-Elemente.
- Soziale Organisation.
- Geographische Verbreitung menschlicher Nutz-Pflanzen [die sogenannte 'Ethno-Botanik'; d.Ü.], mögliche Verwandtschaften mit wilden Spezies, mögliche Region der Domestizierung.
- Epigraphische Studien, Verwandtschaft von Alphabeten und Schrift-Systemen weltweit.
- Vergleichende Mythologie, Studien mündlicher Überlieferungen Migrations-Überlieferungen der nordamerikanischen Indianer-Nationen.
Jeder dieser Gegenstände umfasst mehrere, oder auch viele, Sub-Studienfelder, und die Liste ist keineswegs vollständig. Doch selbst aufgrund einer solch unvollständigen Auflistung wird deutlich, dass es keine leichte Sache sein wird, bezüglich dieses oder jenes Sub-Problems zu einem vernünftigen Urteil zu kommen. Das ist ganz entschieden nichts für den Spezialisten. Es ist zwecklos, und keine wohlgelehrte Vorgehensweise, lediglich allein auf Grundlage kultureller, linguistischer oder epigraphischer etc. Elemente zu urteilen. Alle (oder zumindest so viel wie möglich) Stücke des Puzzles müssen in Betracht gezogen werden. Anderenfalls haben wir es mit einem Fall von unvollständigen Evidenzen und unausgereiftem Urteil zu tun.
So führt es, um auf die Spezialisten-Arbeit zu nativ-amerikanischen Dampfbad-Therapien zurückzukommen, die in diesem Artikel eingangs erwähnt wurde, praktisch nirgendwo hin, ein qualifiziertes und vernünftiges Urteil zu einem anstehenden größeren Problem (hier z.B. die Besiedlung Amerikas) abgeben zu wollen, in dem man lediglich Forschungs-Ergebnisse aus einer Facette dieses größeren Problems verwendet. Kulturelle Diffusion ist ein viel zu facettenreiches Feld für solch eine Vorgehensweise: wir bekämen höchstens eine unzuverlässige Version oder Annäherung an das, was wirklich in der Vergangenheit geschehen ist.
Nebenbei, alle Forschungsfelder, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen (welche niemand von uns persönlich erlebt hat), wie die Historiographie, Prähistorik, Paläontologie, Quartär-Geologie, eingeschlossen katastrophistische Szenarien, oder die Geschichte des Sonnensystems oder des Universums im allgemeinen, müssen notwendigerweise mit dem stets präsenten Verdacht leben, dass ihre Veröffentlichungen eher auf das Feld der Literatur, denn auf dasjenige der Wissenschaft gehören. Kein Wissenschaftler, doch auch keiner der Ältesten der Native Americans, der Träger der (höchst interessanten und nachdenklich stimmenden) mündlichen Überlieferungen, einen Eid in Hinsicht auf das leisten, was in weit entfernter Vergangenheit wirklich geschehen ist.
Wir müssen uns von dem recht naiven und unwissenschaftlichen Vorstellung befreien, dass die Wissenschaft auf alles Antworten liefert. Viele Schlussfolgerungen werden noch eine ganze Weile spekulativ bleiben. Uns wird häufig keine andere vernünftige Vorgehensweise übrig bleiben, als es mit qualifizierter Spekulation und der Auswahl verschiedener Szenarien zu versuchen, die auf Basis unserer derzeitigen Daten-Lage gleichermaßen möglich erscheinen. Manch-mal könnte uns die Vorstellung beschleichen, dass - terrible dictu! - unsere "wissenschaftliche Methode" eine Verwandtschaft zu den Methoden der Astrologie aufweist, wo Intuition (neben den "exakten" Berechnungen) bei der Beurteilung, z.B. der Geburt[s-Daten], eine wichtige Rolle spielt.
Intuition ist gar keine so üble Sache, vorausgesetzt, sie wird (vom generalistischen Gelehrten, der auf dem Felde kultureller Diffusion tätig ist) durch Dekaden des Studiums und einer profunden Kenntnis der epistemologischen Basis guter Wissenschaft ausbalanciert. Im Grunde ist kulturelle Diffusion vor allem ein ethnologisches Problem, und als solches keine "exakte Wissenschaft", wo, nach einer weit verbreiteten Auffassung, die "Wahrheit" einfach vermittels mathematischer Berechnungen und Experimente zu erlangen ist.
Anmerkungen und Quellen
Dieser Beitrag von Dr. Horst Friedrich © erschien erstmalig in englischer Sprache unter dem Titel "CULTURAL DIFFUSION: AN INTERDISCIPLINARY, MULTIFACETED PROBLEM" im MIDWESTERN EPIGRAPHIC NEWSLETTER, REPORTS OF THE MIDWESTERN EPIGRAPHIC SOCIETY - A CHAPTER OF THE EPIGRAPHIC SOCIETY, 11-8-05/V. 22, No. 4; Übersetzung ins Deutsche und redaktionelle Bearbeitung durch Atlantisforschung.de (11/05)
- ↑ Red. Anmerkung: Wie wir zwischenzeitlich erfahren haben, wurde die Publikation von Migration & Diffusion leider eingestellt. Erfreulicherweise existiert inzwischen eine Online-Nachfolgepublikation gleichen Titels (Migration & Diffusion) der Herausgeberin, Frau Dr. Christine Pellech, Wien.
- ↑ Red. Anmerkung: Zu einer konformistisch-schulwissenschaftlichen (konkret: anthropologischen) Kritik des "Rasse"-Begriffs siehe: Wir sind alle Afrikaner von Prof. Dr. Volker Sommer; zu einer nonkonformistisch-grenzwissenschaftlichen Kritik vergl.: Fünf Thesen zur Vorgeschichte von Dr. Horst Friedrich.
Bild-Quellen
(1) Egitto Photo Gallery / Saqqara - 11/2002
(2) http://www.alien.de/fischinger/Artikel28.html
(3) Archaeology and Prehistory